Als wir an einer Ampel in Fribourg warten müssen, fragt mich der 4-jährige Luca: „Das sind zwei Frauen dort, die sich auf den Mund küssen oder?“ Ich bejahe seine Frage und kurz darauf sprudelt die nächste Frage aus ihm heraus. „Aber warum sind das zwei Frauen und nicht ein Mann und eine Frau? Frauen küssen sich doch nur auf die Wange und nicht auf den Mund! Dürfen die das?“ Ich erkläre ihm, dass die beiden Frauen sich wohl einfach sehr gerne haben und das einander zeigen, in dem sie sich auf den Mund küssen. Luca betrachtet die zwei sich küssenden Frauen noch ein Weilchen und dann müssen wir die Strasse überqueren. Es ist grün.
Auf der Rückfahrt zu seiner Pflegefamilie unterhalten wir uns weiter über die küssenden Frauen. Sie beschäftigen Luca. „Die Frauen haben sich auf den Mund geküsst, weil sie sich gerne haben, das stimmt oder?“ Ich muss kurz schmunzeln und beantworte dann seine Frage: „Ja Luca, das stimmt.“ In der Pflegefamilie angekommen nehme ich im Wohnzimmer Platz um mit der Pflegemutter die Ergotherapie zu besprechen, zu der ich Luca begleitet habe. Während wir uns unterhalten und einen Kaffee dazu trinken spielt Luca mit seinem 5-jährigen Pflegebruder. Sie bauen mit Legos eine Stadt mit Gebäuden und Strassen und transportieren Sachen in der ganzen Wohnung. Plötzlich wird Luca ganz still und hört auf zu spielen. Ihm scheint etwas ganz Wichtiges durch den Kopf zu gehen als er seinen Pflegebruder beobachtet. Er geht auf ihn zu und küsst ihn auf den Mund. Verdutzt und ganz überrascht putzt er sich mit der Hand seinen Mund und fragt Luca: „Was machst du da? Ich will jetzt spielen.“
„Weißt du, zwei Frauen haben sich auf den Mund geküsst. Sie haben sich eben sehr gern. Und weil ich dich gern habe, habe ich dich auf den Mund geküsst.“ Für etwa 5 Sekunden schauen sich die beiden ohne Worte an und fangen dann an zu lachen und spielen weiter Transport in der Stadt.
Diese Geschichte hat mich wahnsinnig berührt und bewegt. Ein kleiner Junge, der direkt und unverschlüsselt fragt, was ihn interessiert. Ein Bild, das ihm neu ist und von dem er keine Wertung kennt. In seiner Welt gibt es im Moment noch kein Richtig oder Falsch zum Bild: zwei Frauen küssen sich auf den Mund. Er versteht einfach, dass sie sich gern haben und sich deswegen küssen und setzt dies bei einem Menschen um, den er auch gern hat. So selbstverständlich, ohne Hemmungen und Angst, dass andere sich erschrecken könnten oder über ihn reden. Es als „abnormal“ oder eklig abstempeln.
Die Chance ist leider gross, dass Luca dieses Verhalten verlernt, die Gesellschaft ihm ein stereotypes Bild überstülpt und er lernt ein- oder zuzuordnen, was zusammenpasst oder eben nicht. Was geht und normal ist und was sonderbar und unüblich ist.
Doch können wir ganz viel von Luca, dem 4-jährigen Jungen lernen, der 2mal pro Woche in eine Therapie muss, weil er angeblich „von der Norm abweicht“. Es geht weder um Geschlecht, noch um richtig oder falsch, normal oder abnormal. Es geht nur um eines: Weil ich dich gern hab…